In der Mittagspause fällt mir folgender Aushang auf:
Internationale Konferenz zum Thema „Erinnerungskulturen online“
14. bis 16. April 2011
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Da ich ja quasi vor Ort bin, nutze ich die Gelegenheit und schleiche mich rein. Das war eine gute Entscheidung.
Gleich in der Begrüßungsrede zeigt Herr Schilling [1] von der Bundeszentrale für politische Bildung, dass es bei „Erinnerungskulturen online“ um bildungspolitische und kulturpolitische Aspekte geht – zumal um die Vermittlung von Geschichte im Social Web und die Nutzung des Social Web für Erinnerung. Das macht mir die Veranstaltung sympathisch, da hier das Social Web als Mittel des kulturpolitischen / bildungspolitischen Auftrages angesehen wird und nicht als Marketinginstrument für eine Kultureinrichtung.
In meiner Masterarbeit habe ich versucht, dass auch für das Goethe-Institut darzustellen.[2]
Schilling plädiert dafür, die „Medienkultur“ des Social Web in die Erinnerungsarbeit mit einzubeziehen. Das bedeutet mediale Aktivität statt Passivität. Wobei mediale Passivität auch die bloße Nutzung des Web als Distributionsplattform (Bildergalerie, Videokanäle) ist. Die Medienkultur des Social Web bringt die alte Expertenkultur der Geschichtswissenschaft unter Druck. Im Social Web bilden sich neue Expertengruppen. Die Ideen und Potenziale der Social Web Nutzer müssen für die Erinnerungsarbeit erschlossen und nutzbar gemacht werden. Die digital natives sind es gewohnt, im Netz zu agieren, und treffen im Bildungssektor dabei häufig auf „Schweigende Sterne“ (Zitat Schilling).
Der einführende Trailer (eine Produktion von 3sat, glaub ich) war übrigens auch wunderbar. [3]
Claus Leggewie von der Uni Gießen war für mich ebenfalls eine Entdeckung. Der Vortrag war sehr interessant und kurzweilig, auch wenn ich bei bestimmten geschichtswissenschaftlichen Grundlagen nicht mithalten konnte. Habe ich erwähnt, dass ich mal Geschichte studieren wollte?
Herr Leggewie stellt drei Thesen auf
- Virtualität ist nichts Neues. Erinnerung ist schon immer irgendwie virtuell.
- Die neuen Techniken des Social Web erlauben neue Formen der Virtualisierung von Erinnerung. Den Herausforderungen der höheren Interaktion, individuellen Quellenkritik usw. muss man sich stellen.
- Inhalte bleiben wichtiger als das Trägermedium. Letztere wirken aber auch auf Inhalte zurück.
Leggewie zeigt auf, dass es noch ein große Lücke in der Medien- und Kommunikationsforschung gibt zur Wirkung und Funktionsweise des Social Web.
„Wir wissen zu wenig über die Realität der virtuellen Erinnerung.“ (Leggewie)
Auch in meiner Masterarbeit bin ich immer wieder darauf gestoßen, dass die kommunikationswissenschaftlichen Konzepte zum Social Web Theorie waren, die eine umfangreiche empirische Erforschung bedürfen.
Leggewie erläutert, dass die Nutzungs- und Medienkritik zum Social Web auf bestehenden Bewertungskriterien aufbauen kann.
- Ästhetik
Es ist ein ästhetisches Problem, ob man „Inglourious Basterds“ oder „Dancing Auschwitz“ gut findet oder nicht. - Verhältnis von Fakten und Fiktion
Ob man Fakten und Fiktion vermischen kann und soll, um Geschichte „erlebbar“ zu machen, ist nicht nur ein Problem für den Facebook-Auftritt eines Holocaust-Opfers Henio Zytomirski. - Verhältnis von Text und Bild
Dem Text wird eher Realität / Seriösität zugeschrieben, dem Bild wird eher Emotionalität zugeschrieben. Eine Zuschreibung, die schon vor dem Social Web bestand und bei der Vermittlung von Geschichte diskutiert wurde.
Das Internet und insbesondere das Social Web unterstützen individuelle Erinnerungskultur, Teilhabe von Laien, Veränderung der Wissensproduktion und die Diversifikation der Geschichtsinterpretation.
Leggewie weist darauf hin, dass das Social Web vielleicht gar keine neue Erinnerungskultur schafft, sondern etwas bestehendes – Konzept der oral history – nur anders abbildet. Das bekannte Problem mit dem Huhn und dem Ei.
Der Beitrag von Laien zur Erinnerungsarbeit wird immer wichtiger. Umso wichtiger wird auch bei der Erinnerungsarbeit die Medienkompetenz und Quellenkritik. Und ich denke hier ist eine Aufgabe für die Experten der Bildungsarbeit. (Die wissen das sicherlich schon, sonst hätte die bpb nicht zur Konferenz eingeladen.)
Dass Inhalte, Objekte und Angebote anders genutzt werden als vom Autor oder Bereitstellenden intendiert ist auch kein originäres Problem der Social Web Kultur. Leggewie verweist auf die nahe gelegene Holocaust-Gedenkstätte als „reales“ Beispiel.
Zum Ende gab Leggewie noch einmal eine schöne Definition von Erinnerungsorten im Zusammenhang mit dem Social Web.
Erinnerungsorte sind „einfach und vieldeutig, natürlich und künstlich, der sinnlichen Erfahrung unmittelbar gegeben und gleichzeitig Produkt eines höchst abstrakten Gedankenwerkes.“
(Pierre Nora zitiert von Leggewie)
Erinnerungsorte sind Medien des kollektiven Gedächtnisses, inszenierte Orte, haben materielle, symbolische und funktionale Funktionen. Das ist eine schöne Definition von Virutalität, meint Leggewie. Erinnerungsorte sind auch im Web.
Ich denke nicht, dass ich morgen den gesamten Tag Zeit für die Konferenz finde. Hoffentlich gibt es den livestream von der Webseite später auch im Archiv.
Was es noch gab?
„Das Internet strapaziert unser Verständnis von Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit.“
(Leggewie bei der Podiumsdiskussion)
Einen Hinweis auf das Sonderforschungsgebiet „Visualisierung und Virtualisierung von Erinnerung : Geschichtspolitik in der medialen Erlebnisgesellschaft“ und auf das Buch „Erinnerungskultur 2.0“ von Erik Meyer.
Ein Plädoyer für gemeinsame europäische Erinnerung von Leggewie. Denn diese bieten ein Integrationspotential für den europäischen Gedanken.
Nicht nur das Social Web folgt den Kriterien der Aufmerksamkeitsökonomie mehr als den Kriterien der Wahrheit, sondern auch das Fernsehen und die Printmedien. (Leggewie bei der Podiumsdiskussion)
Die Erkenntnis, dass Historiker und Pädagogen auf Konferenzen genau so wenige twittern, wie Bibliothekare – selbst dann, wenn es um das Social Web geht.
#digmem
Die Erkenntnis, dass man meine tweets nicht öffentlich lesen kann, wenn ich sie als „geschützt“ markiere. ;o)
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[1] Ich hoffe, ich habe den Vortragenden richtig gegoogelt. Thorsten Schilling, Fachbereich Multimedia bei der BpB (vgl. Organigram)
[2] Der Termin zur Verteidigung der Masterarbeit steht immer noch aus. Darum und auch aus Zeitgründen gibt es ersteinmal nicht mehr dazu.
[3] Vielleicht finde ich den bei Gelegenheit mal im Netz.
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